Schattenzeichen - Band II
Unwissend und den ominösen weißen Stein samt Samen in der Hand haltend, ging der Großinquisitor zurück zum kaiserlichen Palast und berief den großen Rat der Inquisition ein, um sich mit all ihnen zu beraten und weitere Schritte zu beschließen, doch auch hier legte sich ein Tuch des ratlosen Schweigens über die gekuttete Gruppe. Welche Finsternis vermag aus seinem ewigen Verlies zu entweichen und was mag dies mit Stein und Samen zu tun haben? Um doch endlich eine Antwort zu finden, beschloss man, in den Palastgärten eine Parzelle einzurichten und die Saat dort zu setzen, auf dass sie keime, wachse und letztendlich ihr bedeutendes Geheimnis preisgebe. Ebenso wollte man das Mysterium um den bleichen Gesteinsbrocken lüften, doch dies sollte sich als bedeutend schwieriger herausstellen als das behände Vergaben eines Samens. Wie es also kommen sollte, wurde der seltsame Stein im Sinne eines alchemistischen Stoffes getestet und mit Experimenten auf verschiedenste Eigenschaften untersucht. So verstrichen die Tage und aus diesen Tagen wurden Wochen und Monate – doch die Forschung ging voran. Was fanden die eifrigen Inquisitoren des Kaisers heraus? Definitiv war dieser Stein kein gewöhnlicher, denn kein Magier des Reiches, und sei er noch so mächtig, schaffte es, ihn auf magischem Wege zu beeinflussen. Nein, doch gegen weltliche Mächte schien er geradezu machtlos zu sein, denn nach nur einem Hammerschlag zerfiel der Stein in ein feines Pulver, welches daraufhin viel mehr Mehl als gebröckeltem Gestein glich. Nichtsdestotrotz arbeiteten die Inquisitoren des Kaisers weiter und so wurde sollte ebenfalls ein eigenes Forschungsmanuskript zu jenem Stein verfasst werden, der alsbald als „Eistein“ oder unter seinem fachlichen Namen „Orichalcum“ an Bekanntheit gelangte. So vergingen die Jahreszeiten, der Schnee fiel und schmolz dahin, so wie die Blätter fielen und der Wald vor den Stadttoren bald wieder ergrünen sollte. Nach ein paar Jahren grub sich auch der gekeimte Samen aus dem Boden heraus und es offenbarte sich ein kleines Bäumchen mit vollgrünen, saftigen Blättern. Sodann sollte es aber noch einige weitere Jahre dauern, bis die Zeit gekommen war und aus dem kleinen Spross ein großer Baum mit prächtigen weißen Blüten und roten, kleinen Früchten wurde. Die Begeisterung am kaiserlichen Hofe ward groß und selbst der Kaiser ergötzte sich an dem wunderbaren Anblick des stramm gewachsenen Baumes, dem der Großinquisitor aufgrund der schneefarbenen vollen Blüten und stacheligen Äste den Namen „Weißdorn“ gab.